In den letzten Jahren häuft sich, dass schon beim ersten Telefongespräch mit neuen Klienten folgender Satz fällt: „ Ich habe leider einen Hund mit Deprivationssyndrom“. Natürlich gibt es Hunde mit Deprivationssyndrom, aber in dieser Häufigkeit wie es mir derzeit begegnet, wohl eher nicht.
Der Begriff Deprivation (lat. … deprivare ‚berauben’) bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem sowie das Gefühl einer Benachteiligung. (Quelle Wikipedia)
In Bezug auf die Hundeseele heißt das, dass der Hund über längere Zeit einem Mangel, oder kompletten Entzug, von Umwelt- und/oder Sozialreizen ausgesetzt war, bzw. ist.
Fälschlicherweise heißt es oft, dass ein Deprivationssyndrom nur entsteht, bei Welpen in der Prägephase zwischen der vierten und sechszehnten Woche, wenn dieser wenig, bis gar keinen Reizen ausgesetzt war. Aber auch vollkommen normal, gut sozialisierte Hunde, können in Isolation ein Deprivationssyndrom in jedem Alter entwickeln.
Immer wieder gesehen, bei Tierheim Hunden, die mit dem Alltag und der Reizarmut in einigen Tierheimen nicht zurechtkommen. Auch bei Hunden mit ausschließlicher Garten/Keller/Zwingerhaltung ist das Deprivationssyndrom zu beobachten. Aber was passiert beim Deprivationssyndrom im Gehirn des Hundes?
Erstmal gilt es zu unterscheiden zwischen der sensorischen und der sozialen Deprivation.
Der sensorischen Deprivation ist ein Mangel an sensorischen Reizen (Sinneseindrücke) voran gegangen, bei der sozialen Deprivation fehlte es an sozialen und fürsorglichen Kontaktmöglichkeiten. Das Hundegehirn ist auf permanente Stimulation angewiesen, bleibt diese über einen längeren Zeitraum aus, vernetzen sich Nervenzellen im Gehirn nicht oder nur mangelhaft, und verkümmern schlussendlich. Somit ist bei betroffenen Hunden die Anzahl und Vernetzung der Nervenzellen deutlich reduziert. Kommt es dann zu einem Reiz, feuern die übrig gebliebenen Nervenzellen viel zu lange und unverhältnismäßig. Der Körper geht in den Ausnahmezustand, der Blutdruck des Hundes schnellt in die Höhe, das Herz rast. Dieser Zustand bleibt auch noch lange nach dem Reiz erhalten, bis es im schlimmsten Fall zu einem geistigen und körperlichen Zusammenbruch kommt.
Typische Leitsymptome eines Hundes mit Deprivationssyndrom sind, Angst, Aggression, Meideverhalten, Einnässen oder Einkoten und Konzentrationsunfähigkeit. Man nimmt an, dass das Gehirn auch Halluzinationen entstehen lässt. Ein ähnlicher Zustand wie bei einem Epileptischen Anfall. So zu sagen Feuerwerk im Gehirn.
Soweit die Theorie…
Bei einem verschwindend geringen Teil derer, die mit einem Hund mit Deprivationssydrom-Stempel zu mir kommen, bestätigt sich die „Selbstdiagnose“. Bei fast all meinen Klienten, liegt die Ursache von unverhältnismäßigem Verhalten ihres Hundes, wie auch immer es sich symptomatisch äußert, in einer unklaren Mensch-Hund Beziehung, die als Endresultat zu gestresstem, ängstlichen und/ oder aggressivem Verhalten führt.
Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ist es schlichtweg falsch, beim Deprivationssyndrom von einer lebenslangen, nicht veränderbaren Diagnose zu sprechen, da sich Nervenzellen in jedem Alter neu bilden und sich vernetzen können.
Das Deprivationssyndrom lässt sich bei einer stabilen Mensch-Hund Beziehung und einem gut geschulten, verständnisvollen Halter, in den allermeisten Fällen gut in den Griff bekommen, bzw. heilt mit dem nötigen Wissen vollständig aus. Nicht selten aber kleinschrittig und langsam. Neue Situationen werden behutsam zusammen mit einer sicheren Bindungsperson erlebt, das Gehirn gewöhnt sich Stück für Stück wieder an Reize. Es lohnt sich therapiebegleitend auf Nahrungsergänzungsmittel und in schweren Fällen auch auf die Gabe unterstützender Medikamente und Hormone zurück zu greifen.
Ja es gibt die ganz schweren Fälle, die ein Leben lang unter den Schäden eines Deprivationssyndroms zu leiden haben, und das ist für alle Beteiligten traurig, aber ich erlebe es leider wesentlich häufiger, dass Hunden viel zu schnell der „Nicht-Therapierbar-Stempel“ verpasst wird.
So absurd es sich anhört, manche Menschen schlüpfen sogar gerne in die Rolle des guten Samariters, mit „schwer traumatisiertem Hund“ an Ihrer Seite, um den es sich aufopferungsvoll zu kümmern gilt. Da ist Besserung unterbewusst oder vielleicht auch manchmal bewusst, nicht wirklich erwünscht.
Auch das sollte, wenn über Hunde mit „Deprivationssyndrom“ gesprochen wird, erwähnt sein. Das Problem liegt in diesen Fällen wohl eher in der Psyche des Menschen, als in der des Hundes.
Gott sei Dank sind die allermeisten Menschen mit denen ich arbeiten darf, sehr wohl daran interessiert, dass sich die Lebensqualität ihres Hundes nachhaltig zum Besseren wendet.
Egal welche Ursache ängstliches oder aggressives Verhalten auch immer hat, der Hund braucht sichere, souveräne Unterstützung einer Bindungsperson, an der er sich in schwierigen Lebenslagen orientieren kann.